Was ist normal und was ist es nicht? Halten wir es aus, ganz normal zu sein oder ist uns die Norm zu mittelmäßig, zu wenig besonders? Wieviel Normalität brauchen wir andererseits, um uns zugehörig zu fühlen?
Die außergewöhnlichen Nachrichten merken wir uns, bei ihnen hören wir genau hin. Wir unterhalten uns gerne über das Spezielle, das, was gefühlt besonders traurig, aufregend, grausam, rührend, damit besonders interessant ist. Kann normal auch interessant sein?
Ja, das kann es und das sollte es auch. Wir brauchen es, als normal anerkannt zu werden, um zugehörig zu sein.
Es gibt viele Faktoren, die dazu führen dazu, dass wir unsere Kinder (zu) häufig außerhalb der Norm einordnen. Für uns sind sie natürlich besonders. Für Lob von außen sind wir offen. Wenn unsere Kinder aber in Schule oder Kindergarten negativ auffallen, sind auch wir oft allzu leicht dazu bereit, ihnen eine Diagnose zuordnen zu wollen-schon deshalb, weil die Schuld dann nicht mehr bei uns liegt.
Was bedeutet normal? Der Begriff kommt als Nomen ursprünglich aus der Mathematik und hielt später Einzug in die Medizin (Medizinhistorikerin Sarah Franke.) Im Alltagsleben wird der Begriff noch gar nicht allzu lange verwendet.
Franke beschreibt, dass die Norm für uns ein wichtiger Parameter ist, um dazuzugehören.
Normkurven richten sich nach dem Durchschnitt einer bestimmten, nach zufälligen oder definierten Kriterien ausgewählten Gruppe.
An den meisten Studien zur Normierung nehmen laut Franke die Gruppe der sogenannten WEIRD- People teil (westlich, gebildet, industrialisiert, reich, demokratisch). Was bei diesen Studien herauskommt, klammert daher von vornherein Einzelpersonen und Gruppen, die diesen Attributen nicht entsprechen, komplett oder teilweise aus, wodurch sie sich in den so erstellten Normkurven nicht wiederfinden.
Bei psychologischen Fragestellungen bestand die Kohorte der Befragten zur Erstellung des Durchschnitts, der Norm, häufig aus Psychologiestudent*innen. Diese stellen sicher keine repräsentative Gruppe bezogen auf den Bevölkerungsdurchschnitt dar.
In unserer immer vielfältiger werdenden Bevölkerung braucht es zur Erfassung der Norm Menschen aus verschiedenen Kulturen mit verschiedenen Lebensformen, verschiedenen Lebensumständen.
Schon die scheinbar objektiven Grundlagen von Norm und Normalität sind also nicht ganz einfach und häufig irreführend.
Dennoch fragen wir uns vor allem im Bezug auf unsere Kinder oft, ob ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Entwicklung normal ist oder einer Diagnose bedarf.
Schon sehr früh, oft im Kindergartenalter, werden Kindern Diagnosen angeheftet oder diese zumindest in den Raum gestellt: ADHS, Hochbegabung, Hochsensibilität, Wahrnehmungsstörung, Autismusspektrumstörung. All diese äußerst seltenen Diagnosen sind den meisten Eltern vertraut, sind in aller Munde. Viele Diagnosen lassen sich jedoch so früh noch gar nicht stellen. Für 4- jährige ist es komplett altersgemäß, wenn sie eine imaginäre Freundin neben sich im Auto angeschnallt haben möchten, plötzlich aus Spielsituationen aussteigen und sich zurückziehen oder einen Duschkopf als Spielpartner haben und sich mit ihm unterhalten. Auch das Alter, ab dem ein Kind viele Stunden am Tag in eine große Gruppe integrierbar ist, ist sehr unterschiedlich. Viel öfter als nicht gesund oder nicht normal sind Kinder lebhaft oder verträumt, angepasst oder fordernd und Ideen bringend, an allem interessiert oder eher abwartend.
Die stillen, ängstlichen Kinder werden deutlich weniger oft als nicht normal eingestuft, als die lebhaften, durchsetzungsstarken. Eben weil erstere sich deutlich besser in Gruppen einordnen lassen- dabei können ausgeprägte Ängste bezogen auf den Stand im späteren Leben ein Ernst zunehmendes Problem darstellen.
Diagnosen haben natürlich ihre Berechtigung. Sie sind die Voraussetzung für spezifische Fördermaßnahmen und eine angemessene Therapie. Dennoch sollten wir uns davor hüten, zu inflationär mit ihnen umzugehen.
Gerade bei jüngeren Kindern lohnt es sich immer, die Lebensumstände anzuschauen. Ist dem Kind ein 8- Stunden tag im Kindergarten vielleicht viel zu viel? Hat es den Gruppenwechsel schlecht verkraftet oder braucht es eventuell einfach mehr Schlaf? Es lohnt sich zu schauen, was sich eventuell für`s Kind erleichtern lässt, wenn es Auffälligkeiten zeigt.
Kinder sollten lernen, bestimmte Anforderungen zu erfüllen, aber sie lassen sich nicht auf Biegen und Brechen in jede Lebenssituation einfügen, ohne Symptome zu zeigen- und das ist gut so.
Aus Kindern, die nur auf einem schmalen Grat wandeln dürfen, um als normal zu gelten, werden allzu leicht Jugendliche, die genauso enge Maßstäbe an sich selbst im Vergleich mit anderen anlegen. Da stellen dann die sozialen Medien eine unausweichliche Falle dar. Genauso, wie die You-tube Stars in ihren mit Filter versehenen Fotos muss man aussehen, um normal zu sein. Genauso ein interessantes Leben, dargestellt durch atemberaubende Fotos an wundervollen Plätzen muss man führen um sich normal zu fühlen. Nur das Perfekte wird zur Norm. Das sollten wir von Anfang an keinesfalls vermitteln.
Die Spannbreite normalen kindlichen Aufwachsens ist sehr, sehr weit. Der Beginn des Krabbelns, später Laufens, die Sprachentwicklung, das Eingehen erster Freundschaften,
das Schlafen im eigenen Bett, Durchschlafen, Fahrrad fahren, Schwimmen, die erste Liebe, die Bereitschaft auszuziehen- all das entwickelt sich sehr unterschiedlich und ist in dieser Unterschiedlichkeit normal.
Die Angst, etwas Wesentliches zu übersehen ist verständlich. In den meisten Fällen wird es sich bei den Auffälligkeiten um Probleme handeln, deren Lösung ohne welche Art von Therapie auch immer gefunden werden kann. Oft helfen Gespräche mit Eltern, die bestimmte Lebensphasen mit ihren Kindern schon hinter sich haben oder ausführliche Gespräche mit der Kinderärztin oder dem Kinderarzt bei den Vorsorgeuntersuchungen.
Wenn wir uns als stabile Bezugspunkte für unsere Kinder sehen, die in etwa einen Plan haben, welche Werte sie vermitteln möchten und die ihren Kindern ein freies, weites erkundungsreiches Leben ermöglichen, werden wir mit ihnen die meisten Schwierigkeiten durchstehen und Lösungen für sie finden ohne die Kinder als nicht normal deklarieren zu müssen oder ihnen eine Diagnose zuzuordnen. Lassen wir unseren Kindern ihre Persönlichkeit.
Vielfältigkeit ist eine existentielle Grundlage für das Funktionieren und die Weiterentwicklung einer Gesellschaft.
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