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Bei einer 5 gibt's Eis mit Sahne- Wege aus der Optimierungsfalle

Autorenbild: Dr. Jutta WeberDr. Jutta Weber

Meine erste 6 hatte ich in der fünften Klasse: Englisch bei Frau Richard.

Auf dem Arm den Stapel voller schwarzer Klassenarbeitshefte mit rotem Rand baute sie sich vor mir auf. Mein Heft lag zuoberst und sie nahm es als erstes vom Stapel um es mir auf das Pult vor mir zu knallen. „Jutta, eine glatte 6!“ Ich merkte, wie mir das Blut in die Ohren strömte und die Tränen in die Augen schossen. „Jetzt bloß nicht losheulen.“ wiederholte ich innerlich wieder und wieder. Aber Frau Richard war noch nicht mit mir fertig: „Und weißt du was der Grund ist, liebes Fräulein? Du bist faul, stinkefaul.“ Mir wurde übel. Ich spürte die weit aufgerissenen Augen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler auf mir

Das Ganze war so peinlich und schlimm und vielleicht würde ich jetzt ganz viel sechsen schreiben und hängen bleiben oder von der Schule fliegen. Die Gedanken kreisten, aber ich bot meine ganze Kraft auf, um nicht zu weinen. Vor anderen weinen ging noch nie. Das hätte dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt. Ich schaffte es noch bis zur Pause und schob mich mit meiner Schultasche an den anderen vorbei aus der Klasse, noch bevor meine Freundinnen zu mir kommen konnten, um tröstend auf mich einzureden. Ich stolperte ins Sekretariat und rief von dort aus meine Mutter an. Sie müsse mich dringend abholen. Ich fühlte mich äußerst krank. Fünfzehn Minuten später stand sie mit ihrem alten, mittelblauen R4 vor dem Schulgebäude. Als ich neben ihr auf den Beifahrersitz plumpste, fühlte es sich an als sei ich einer dunklen engen Kiste entstiegen und könnte endlich wieder frei atmen:

Sofort heulte ich los und stammelte unter Schluchzen recht Unverständliches. Das Wesentliche hatte meine Mutter kapiert und platzierte mich zuhause angekommen mit einem warmen Tee auf einen Küchenstuhl. „Ich koche dir jetzt erstmal einen Griesbrei. Dann sieht die Welt schon wieder anders aus. Die 6 ist jetzt schon Schnee von gestern. Das passiert dir nicht nochmal, glaub`s mir. Das ist nur eine Note. Davon geht die Welt nicht unter.“

Das waren so wohltuende Plattitüden. Damit war für meine Mutter der Fall erledigt. Es wurde kein Nachhilfelehrer gesucht, ich wurde in keinem Lerninstitut angemeldet, wir suchten nach keinem Muttersprachler, der mit mir Englisch parlieren sollte. Ich bekam auch kein Verbot, nicht einmal ein böses Wort. Ich bekam Grießbrei- mit Himbeersirup. Den hatte ich auch bitternötig. Wofür braucht man bei einer guten Note eine Belohnung? Da hatte man schon das Leuchten in den Augen des Lehrers, die neidvollen Blicke der anderen in der Klasse, da spürte man schon das Schwellen der eigenen Brust, bekam stolz vom Vater auf die Schulter geklopft und auch die Oma wurde angerufen. Aber bei einer fünf? Nichts von alldem. Ganz im Gegenteil. Man fühlt sich klein und mickrig, hat Angst vor dem Versagen- und davor, dass einen die anderen für doof halten. Da muss ein dickes Eis her- mit Sahne- und Schokostreuseln. Ja, Schule ist wichtig- oder besser: Bildung ist wichtig- das darf man nicht in einen Topf schmeißen, aber was sind schon einzelne schlechte Noten auf das lange Leben betrachtet? Wen stört die 5 in Mathe in Klasse 7? Gibt es da überhaupt einen Zusammenhang zum Lebenserfolg? Was zählt ist, dass wir unseren Kindern die Motivation erhalten. Am Anfang ihrer Schulzeit hatten sie alle Lust, etwas zu lernen.

Was sie interessiert, sollten wir vertiefen, ihnen mit größtmöglicher Entspanntheit vermitteln, dass vieles Notwendige Grundlagen ist für Interessanteres, das nachkommt, interessiert zuhören, wenn sie erzählen- das macht Kinder stolz. Je leichter und spielerischer wir mit Lernen und Wissensvermittlung umgehen, umso ungezwungener, freier und besser wird ein Kind lernen.

Druck hemmt und blockiert. Keiner von uns geht gern zur Arbeit, wenn er dort vor allem auf seine Fehler hingewiesen wird. Positiver Umgang, das Hervorheben von Stärken motiviert. Das soll nicht heißen, dass man über Defizite hinwegsieht- ganz im Gegenteil- sie sollen ganz genau betrachtet werden. Eine schlechte Klassenarbeit ist eine gute Möglichkeit festzustellen, was man noch vertiefen, besser lernen muss, aber sie ist dennoch nicht mehr als eine punktuelle Leistung, die nicht überbewertet werden darf. Ich habe übrigens nachgeschaut: trotz der 6 in der Englischarbeit, hatte ich auf dem Zeugnis eine drei- und Englisch- Leistungskurs ab Klasse 11- der Grießbrei scheint es also tatsächlich gebracht zu haben!


Cave: Die Optimierungsfalle- unsere Kinder sind gesünder als wir denken Hochbegabung, ADHS, ADS, Wahrnehmungsstörung und Kiss- Syndrom Bewusst stopfe ich all diese überhaupt nicht zueinander passenden Schlagworte meines Praxisalltags in eine Überschrift, denn eines scheint es immer seltener zu geben: das normale Durchschnittskind ohne Therapiebedarf. Ohne Schrei nach Begabtenförderung, Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie, nach Konstitutionsmittel, Osteopathie und Marburger Konzentrationstraining. All diese Bereiche haben ihre Berechtigung, aber die Großzügigkeit der Indikationsstellung, unser Hang zur Pathologisierung der Kinder, ist durchaus bedenklich, denn jede dieser Therapien bedarf einer Krankheitsdiagnose. Unsere Kinder sind aber deutlich gesünder, als wir denken. Schon von Geburt an wollen wir das Optimale für unsere Kinder. Kommt ein Baby mit einer Schiefhaltung des Kopfes zur Welt, wird es bereits argwöhnisch betrachtet, und gemutmaßt, ob da nicht der Osteopath Hand anlegen muss, um es zu deblockieren, zu begradigen. Dabei ist die Schiefhaltung in den meisten Fällen nach der Enge im Bauch normal. Das Kind kann sich zum Ende der Schwangerschaft hin im Mutterleib nicht mehr so gut bewegen und entwickelt so eine Vorliebenseite, welche oft noch ein paar Wochen bestehen bleibt. Bis es drei Monate ist, hat sich, bei Bedarf unterstützt von ein paar kleinen Übungen, die Schiefhaltung in den allermeisten Fällen erledigt. Wir haben Zeit und sollten sie unseren Kindern von Anfang an geben. Zeit, ins Leben zu finden, Zeit in der Schule anzukommen, Zeit, Stillsitzen, sich organisieren, abstrakt denken zu lernen. In den allermeisten Fällen bedarf es keiner Therapeutinnen und Therapeuten, damit das Kind spezifische Fähigkeiten erlangt, sondern einfach nur Zeit. Vor allem Zeit mit den Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen- so viel Zeit für eben dieses Kind, dass es sich in ihrer Gegenwart entspannt entwickeln kann. Wir leben mit unseren Kindern so, als hätten wir keine Zeit, als würde zum Ende hin ein großer Preis auf uns warten, wenn wir an ihnen zerren und ziehen, sie in ihrer Entwicklung antreiben, sie zu den besten Leistungen bringen wollen.

Dabei wartet, was die reine Leistung angeht, auf alle das Gleiche: ein wie auch immer gestaltetes Berufsleben bis zur Rente. Natürlich brauchen unsere Kinder Wissen und Bildung, aber wir alle kennen die Schultreffen nach 10, 20 oder 30 Jahren, in denen wir uns erstaunt umsehen und feststellen, dass es nicht die ehemals Klassenbesten sind, die die interessantesten Leben führen. Was nämlich aufs lange Leben betrachtet viel wichtiger ist, ist Spaß an der Sache, Motivation, Durchhaltevermögen, breitgefächertes Denken. Jedes Kind ist individuell und braucht seine Zeit, um bestimmte Entwicklungen zu durchlaufen. Wenn wir zugewandt mit unseren Kindern leben, mit ihnen reden, ihnen Vorlesen, ihnen Geschichten erzählen, ihnen die Welt in mundgerechten Stücken zu erklären versuchen, brauchen sie nur äußerst selten therapeutische Hilfe- und wenn sie diese brauchen, ersetzt sie nie unseren elterlichen Anteil an ihrer Entwicklung.

Für uns Eltern bringt der Gedanke, dass wir nicht jeden Tag, jedes Alter optimal nutzen und unterstützen müssen, eine deutlich größere Gelassenheit. Leben wir mit unseren Kindern mit dem größtmöglichen Genuss. Unser zuversichtlicher Blick auf unsere Kinder lässt auch sie daran Glauben, dass sie wirksam sein und ihr Leben zu ihrer eigenen Zufriedenheit gestalten können.

 
 
 

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